Am Hohen Ufer: „Polenaktion“ und Novemberpogrom 1938

An der Leinefurt und Flussinsel in Höhe des Beginenturms liegt die historische Keimzelle Hannovers. Ein Jahrtausend später sind Gebäude am Hohen Ufer eng mit der (Vor)Geschichte des Novemberpogroms verbunden: Hier werden im Jahre 1938 fast 500 Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft vor ihrer Abschiebung festgesetzt, von hier ziehen SS-Mannschaften los, um die bereits brennende Neue Synagoge zu „sichern“ – vor möglichen Löschversuchen.

Hannover: Mit Hakenkreuzfahne - Konzerthaus am Hohen Ufer in der ehemaligen Reithalle, rechts anschließend der Neue Marstall, undatiert. Bildarchiv Historisches Museum Hannover
Hannover: Mit Hakenkreuzfahne - Konzerthaus am Hohen Ufer in der ehemaligen Reithalle, rechts anschließend der Neue Marstall, undatiert. Bildarchiv Historisches Museum Hannover

Von Pferden und Wagen

Nach Ernennung zur welfischen Residenzstadt mitten im Dreißigjährigen Krieg (1636) verändert Hannover sein Gesicht. Die Anlage der Neustadt machte die mittelalterliche Befestigung der Altstadt entlang des Hohen Ufers überflüssig. Nördlich des neuen Welfenschlosses (heute Sitz des Niedersächsischen Landtags) entstehen Staatsbauten für Militär und Hofhaltung: Das Zeughaus (1649) zur Lagerung und Instandhaltung der Kriegswaffen, entlang des Flusses und dann abknickend in Richtung des historischen Steintors der Alte Marstall (1687), Neue Marstall (1712), Reithaus (1714) sowie zahlreiche Pferderemisen und Reitbahnen. Als jüngstes Gebäude wird an der neuen Goethestraße kurz vor dem Ende der Welfenherrschaft noch eine große Wagenremise (1861) für den königlichen Kutschpark errichtet – er umfasste um die 160 Pferdewagen!

Neue Funktionen

Nach Herabstufung Hannovers zur preußischen Provinzstadt setzt die Umnutzung dieser Bauten ein. Das Zeughaus wird zum städtischen Leihamt, in die Remise an der Goethestraße und den Nordteil des Alten Marstall ziehen Firmen ein, vor allem aber eignen sich die mächtigen und innen bis unter das Dach offenen Hallen für die Einrichtung von Veranstaltungs- und Versammlungssälen: Der Hof zwischen Wagenremise und Reithalle wird überdacht zum Konzertlokal „Palmengarten“. Die Reithalle selber wird aufgeteilt in einen Theatersaal („Deutsches Theater“, geschlossen 1933) mit Eingang zur Scholvinstraße, das „Konzerthaus“ für bis zu 2.000 Personen zum Hohen Ufer hin. Die Südhälfte des Alten Marstall kauft der „Verein für Arbeiterbildung“ und baut ihn aufwändig zum „Neuen Hannoverschen Festsaal“ um.

Wandlungen eines Arbeitervereins

Der im Jahre 1845 im demokratischen Vormärz zu Bildungszwecken von Buchdruckern gegründete „Arbeiterverein zu Hannover“ hat sich bereits während des Kaiserreichs sehr reaktionär entwickelt. So wird er Mitglied im deutschnationalen Deutschen Kolonialverein und im Deutschen Flottenverein. Wirtschaftlich geht es mit zahlreichen Kursen und Bildungsangeboten aufwärts, und im Jahre 1873 kann ein ganzer Gebäudeblock an der Burgstraße zugekauft werden („Burghaus“), 1891 erweitert durch den Festsaal am Hohen Ufer. Während der Weimarer Republik neutralisiert man den Vereinsnamen zu „Verein für Fortbildung“ – damit soll jede Verwechslung mit sozialdemokratischen oder gar kommunistischen Bestrebungen vermieden werden. Der Festsaal dagegen wird ohne politische Vorurteile für Versammlungen vermietet: Hier spricht im letzten Jahr der Republik der Gauführer der NSDAP Bernhard Rust so gut wie Otto Brenner als Leiter der linken Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands SAP. 1933 begrüßt der Verein begeistert die Machtübertragung – und bittet den Gauführer untertänigst um das Namenspatronat: Das „Burghaus“ wird zum „Rusthaus“. Heute steht auf diesem Grundstück der Neubau der Volkshochschule.

Vorspiel zur Pogromnacht

Viele jüdische Einwohner Russisch-Polens wandern vor dem Ersten Weltkrieg nach Pogromen in das Deutsche Reich aus – Deutschland gilt ihnen als vergleichsweise liberal und rechtssicher. Nach der Neugründung eines polnischen Staates 1918 erhalten sie polnische Pässe, bleiben aber zumeist in Deutschland wohnen. Nach einer Verordnung der polnischen Regierung droht ihnen zum 1. November 1938 der Verlust der Staatsbürgerschaft, wenn sie sich dauerhaft im Ausland aufhalten. Das NS-Regime nutzt ihre drohende Staatenlosigkeit als Vorwand zur Massenabschiebung von 17.000 Menschen am 28. Oktober 1938.

In Hannover werden am Tage zuvor 484 polnische Juden durch Polizisten aus ihren Wohnungen, von der Arbeit und aus der Schule geholt und in den Saal des früheren Arbeiterbildungsvereins gebracht. Dort müssen sie mit wenigen Habseligkeiten auf ihre Abschiebung mit der Bahn nach Polen warten. Unter den Festgesetzten befinden sich die Eltern und zwei Geschwister des Hannoveraner Juden Herschel Grünspans. Der 17 Jahre alte Herschel hält sich Ende Oktober 1938 illegal in Paris auf. Als er durch Briefe der Schwester vom Schicksal seiner Familie erfährt, kauft er eine Pistole und gibt in der deutschen Botschaft mehrere Schüsse auf einen Botschaftsmitarbeiter ab. Der erliegt am Nachmittag des 9. November 1938 seinen Schussverletzungen.

Von der Vereidigung zur brennenden Synagoge

Die Nachricht vom Tode des Sekretärs erreicht die versammelte NS-Führung in München, wo sie wie jedes Jahr der „Blutopfer“ des gescheiterten Marsches auf die Feldherrnhalle im November 1923 gedenkt. Die Einzeltat Grünspans dient nun als Vorwand für den anschließenden Pogrom. Von München aus gehen telefonische Befehle an Parteistellen in ganz Deutschland. In Hannover wird die Zerstörung der Neuen Synagoge, Demolierung von Geschäften und Privatwohnungen sowie die Verhaftung jüdischer Bürger von der „Schutzstaffel“ SS organisiert. In der Nacht des 9. auf den 10. November werden SS-Anwärter im Konzerthaus am Hohen Ufer feierlich vereidigt. Nach dem Ende der Veranstaltung ziehen sie morgens um 1.30 Uhr über die Leine zur bereits brennenden Synagoge und „sichern“ sie mit Absperrungen vor Schaulustigen und möglichen Löschversuchen.

Wiederaufbau – Neuaufbau

Der Bombenkrieg trifft die Fachwerkquartiere des Kreuzkirchenviertels, der Calenberger Neustadt und die dazwischen liegende eng bebaute Leineinsel mit voller Wucht. Von einmal 1.600 Fachwerkhäusern bleiben 32 erhalten. Auch vom ehemaligen Zeughaus und vom „Neuen Hannoverschen Festsaal“ bleiben nur die leeren Außenwände stehen. Die Zeughausmauern umgeben jetzt den größten Ausstellungsraum des Historischen Museum, auf dem abgeräumten Grundstück des „Rusthaus“ mit seinem Festsaal entsteht der erste Schulneubau der Nachkriegszeit in der Innenstadt – zwischen 2013 bis 2015 wird die Schule zum modernen Hauptsitz der Ada-und-Theodor-Lessing-Volkshochschule umgebaut. Aus ihren Treppenhaus fällt der Blick in den Hinterhof des ältesten erhaltenen Altstadthauses aus dem 16. Jahrhundert in der Burgstraße 12.

Text Hohes_Ufer_Hannover (PDF)

Weitere Informationen online

Wikipedia-Beitrag: Marställe am Hohen Ufer
LEMO Das Novemberpogrom 1938
Fritz Bauer Institut, Pädagogische Materialien: Dagi Knellessen, Novemberpogrome 1938 (hier als Download)

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel