Raubgut im Museum August Kestner
Das Museum August Kestner ist das älteste Museum der Stadt Hannover. Hermann Kestner stiftete im Jahre 1884 die bedeutende Sammlung ägyptischer und antiker Kunst seines Onkels August Kestner, seine eigene und die Kunstsammlung seines Vaters Georg Kestner der Stadt Hannover unter der Bedingung, ein repräsentatives Gebäude für diese Bestände zu errichten. Während der NS-Zeit erwarb das Haus, wie viele andere Einrichtungen, Kunstwerke aus geraubtem jüdischem Besitz.
Verwertung von „Judengut“
Alle ca. 1.600 noch in Hannover lebenden Jüdinnen und Juden werden am 3. September 1941 durch die Polizei informiert, dass sie bis zum Abend des nächsten Tages ihre Wohnung räumen müssen. Sie werden gemeinsam in 15 „Judenhäusern“ im Stadtgebiet untergebracht – Vorbereitung der bevorstehenden Deportation aus Deutschland. Das zurückgelassene Eigentum wird von der Gestapo gesichert. Private Versteigerer schätzen im Auftrag der Stadtverwaltung den Wert der Einrichtungsgegenstände schon in der verlassenen Wohnung, dann werden diese in städtische Lager gebracht. Um Kunstgegenstände von öffentlichem Interesse zu schützen, werden sie von einer Kommission gesichtet und bei Interesse aussortiert. Der Kommission gehört u.a. der Leiter des Kestner Museum, Dr. Ferdinand Stuttmann, an.
Der Rokoko-Schrank von Klara Berliner
Klara Berliner (1897-1943) wird am 4. September 1941 aus der „Villa Simon“ in der Brühlstraße 7 in das „Judenhaus“ Heinemanhof in Kirchrode verschleppt, bisher Altersheim einer jüdischen Stiftung. Als Tochter von Joseph Berliner aus der bedeutendsten jüdischen Erfinder- und Industriellenfamilie Hannovers ist sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1938 die Alleinerbin des großen Hauses und seiner Einrichtung. Am 16. September 1941 schätzt ein Versteigerer die verbliebenen Gegenstände auf ihren Wert. Darunter befindet sich als Antiquität des 18. Jahrhunderts ein Holzschrank.
Ferdinand Stuttmann kann in offizieller Mission – er ist „Sachverständiger der Reichskammer für die Bildenden Künste“ – mit der Finanzverwaltung über den Erwerb des Schrankes für das Kestner-Museum verhandeln. Nur besteht eine Schwierigkeit: Klara Berliner befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch in Hannover. Das Vermögen von Jüdinnen und Juden fällt nach einer Verordnung vom November 1941 aber erst beim Überschreiten der deutschen Grenzen an die Reichskasse – während der Deportation. Um den gesetzlichen Schein zu wahren, muss die Stadt für das Kestner-Museum den Schrank also von der Besitzerin käuflich erwerben. Stuttmann bittet den Stadtkämmerer schriftlich, ihm dafür 1500 RM zu genehmigen: „Ich war dem Schrank schon länger auf der Spur…“ Klara Berliner erhält im Mai 1942 diese Summe auf ein Sperrkonto, zu dem sie keinerlei Zugriff hat und das mit ihrer Deportation an die Finanzkasse fällt. Der Schrank steht anschließend im Direktorenzimmer Stuttmanns und überlebt den Krieg. Klara Berliner stirbt kurze Zeit nach ihrer Ankunft im KZ Theresienstadt.
Die Sammlung Max Rüdenberg
Der jüdische Unternehmer Max Rüdenberg (1863-1943) betreibt in Hannover-Limmer eine Bettfedernfabrik und bezieht dafür regelmäßig Daunenfedern aus China. Durch einen Mittelsmann lässt er chinesisches Kunsthandwerk kaufen und sicher in den Ballen nach Europa transportieren. Auf diese Weise entsteht seine bedeutende Ostasien-Sammlung. Ihm ist das Interesse des städtischen Kestner-Museums an seiner Ostasien-Sammlung bekannt. Ende 1940 bietet er der Stadt seine Kollektion unter der Bedingung an, von antijüdischen Maßnahmen wie der Ausweisung aus seinem Wohnhaus verschont zu werden. Es kommt anders. Seit Frühjahr 1941 nehmen Luftangriffe auf Hannover zu, und die Stadt bietet Max Rüdenberg die bombensichere Aufbewahrung seiner Kunstgegenstände durch das Kestner-Museum an. Der willigt ein. Und dort befindet sich seine Sammlung noch, als mit der Deportation des Ehepaars Rüdenberg in das KZ Theresienstadt im Juli 1942 ihr gesamter Besitz in das Eigentum des Deutschen Reiches übergeht. Beide sterben dort innerhalb kurzer Zeit.
Ein Vollstreckungsbeamter des Finanzamtes taxiert im Kestner-Museum den Wert der ca. 400 Stücke der Ostasien-Sammlung. Direktor Stuttmann wählt daraus 49 Objekte zum Ankauf für das Museum aus, der Rest wird zugunsten der Reichskasse öffentlich versteigert.
Restitution – Rückerstattung
Klara Berliner bestimmt mit einem Testament vom Dezember 1941 ihre Cousine Cora Berliner zur Alleinerbin. Die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin war 1933 aus rassischen Gründen aus dem preußischen Staatsdienst entlassen worden. Cora Berliner wird 1942 aus Berlin nach Weißrussland deportiert und vermutlich nahe Minsk ermordet. Ihre vier Geschwister überleben in den USA. Unter Berufung auf ein Militärregierungsgesetz zur „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen“ verlangen sie die Rückerstattung von Grundstück und Haus und den Schätzwert der Wohnungseinrichtung. Sie können dies 1952 bzw. 1956 durchsetzen. Allerdings schlägt im Gutachten des Sachverständigen der wertvolle Rokokoschrank nur als billiger „Wäscheschrank“ zu Buche. Bis vor wenigen Jahren steht der Schrank ohne Hinweis auf seine Herkunft in der Dauerausstellung des Museums August Kestner.
Die rechtzeitig emigrierten Kinder von Max und Margarethe Rüdenberg fordern 1949 von der Stadt Hannover die Rückgabe der Kunstsammlung ihres Vaters. Bis auf fünf verschwundene Objekte hat die 49-teilige, vom Kestner-Museum erworbene Ostasien-Sammlung die Auslagerung in einen Bergwerksstollen bei Helmstedt überstanden. Mitsamt dem Grundstück in Hannover-Limmer wird sie im Jahre 1950 an die Erben restituiert.
Der heutige Bau
Das Museumsgebäude wird im Zweiten Weltkrieg schwer von Bomben getroffen. Große Teile seiner Bestände sind vorher in Bergwerkstollen bei Helmstedt und in Tresore innerhalb Hannovers ausgelagert worden. Bereits ab 1947 können in provisorisch hergerichteten Räumen des Museums wieder einzelne Ausstellungen gezeigt werden. Der stark zerstörte südliche Bibliotheksflügel wird nicht wiedererrichtet; der Zentralbau ist seit 1961 von einem würfelförmigen Neubau mit einem Raster aus 5000 Fenstern umgeben und in der Fläche erweitert.
Sonderausstellung zu Raubgut und Rückgabe
Erst die Ausstellung „Spuren der NS-Verfolgung. Über Herkunft und Verbleib von Kulturgütern in den Sammlungen der Stadt Hannover“ thematisiert zwischen Dezember 2018 und September 2019 erstmals ausführlich die NS-Verfolgungsgeschichte Klara Berliners und zeigte die laufenden Bemühungen der Provenienzforschung der Landeshauptstadt Hannover.
Text Museum_Kestner (PDF)
Weitere Informationen
Wikipedia-Beitrag Museum August Kestner
Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen
hannover.de Restitution ostasiatisches Kunstgewerbe aus der Sammlung Max Rüdenberg
Cornelia Regin, Vanessa-Maria Voigt: Enteignet. Zerstört. Entschädigt. Die Kunstsammlung Gustav Rüdenberg 1941 – 1956 (PDF)
Lebensraum Linden Über Max Rüdenberg
bpb Michael Franz Museen, Beutekunst und NS-Raubkunst
Lost Art Internet Datenbank
SAT1 Regional Ausstellung zeigt von Nazis geraubte Gegenstände
Audio Klaras Schrank. Auf der Suche nach den Erben von NS-Raubkultur
Von Lorenz Schröter. Produktion: Dlf/NDR 2020
Literatur Auswahl
Texte und Bildredaktion: Michael Pechel