Vom Königsworther Platz zum “Horst-Wessel-Platz”

Mörder und ihre Opfer. Zwei Villen an einem Platz. Die „Villa Simon“ war seit dem Jahre 1895 im Besitz der jüdischen Unternehmerfamilie Berliner. 1941 wurde sie von der Stadt Hannover erworben. Ihre jüdischen Bewohner wurden deportiert. Wenige Häuser entfernt befand sich mit dem SS-Abschnitt IV das regionale Hauptquartier der „Schutzstaffel“ (SS).

Emailleschild "His Master's Voice". Markenzeichen der Deutschen Grammophon AG, vor 1914. Bildarchiv Historisches Museum Hannover
Emailleschild "His Master's Voice". Markenzeichen der Deutschen Grammophon AG, vor 1914. Bildarchiv Historisches Museum Hannover

“Horst-Wessel-Platz”

Der Königsworther Platz wird kurz nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in Horst-Wessel-Platz umbenannt. Der SA-Mann aus Berlin, angeblich von Mitgliedern des kommunistischen Jugendverbandes ermordet, gilt als „Märtyrer der Bewegung“. Nach ihm werden in der Nazi-Zeit viele Straßen oder Plätze benannt.

Am 1. Mai 1933, dem von den Nazis zum Staatsfeiertag erklärten „Tag der Arbeit“, wird am frühen Morgen auf dem Platz eine „Horst-Wessel-Eiche“ gepflanzt. An der Zeremonie nehmen auch evangelische Jugendverbände wie die Christliche Pfadfinderschaft teil, bevor sie mit einem großen Umzug durch die Stadt ziehen und nachmittags Spiele für Kinder und Familien am Zoo anbieten.

Kommandozentrale der SS

Gegenüber dem heutigen Universitätsgebäude (Conti-Hochhaus) steht an der Westseite des Platzes die repräsentative Villa der jüdischen Fabrikantenfamilie Sichel („Sichel-Leim“ in Limmer). Sie wird 1936 von der Stadt gekauft und sofort an die SS vermietet. Von dieser Kommandozentrale des Abschnitts IV der SS aus werden in der Nacht des 9./10. November 1938 die Aktionen der „Reichspogromnacht“ in Hannover und Umgebung gelenkt: Zerstörung von Synagogen und Geschäften, Überfälle auf Wohnungen, Verhaftungen jüdischer Männer und ihre Einweisung in Konzentrationslager.

Maßgeblich daran beteiligt ist mit SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln ein späterer Haupttäter des Holocaust. Er wird nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 einer der Hauptverantwortlichen für Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung in der Schlucht von Babyn Jar bei Kiew und im lettischen Riga. Ein sowjetisches Kriegsgericht verurteilt Jeckeln nach seiner Gefangennahme zum Tode, er wird gehängt.

Familie Berliner: Unternehmer und Erfinder

An der Einmündung der Königsworther Straße ist eine Villa erhalten, die heute von der Universität genutzt wird. Diese „Villa Simon“ ist bis zu seinem Tode im Jahre 1938 Wohnsitz von Josef Berliner aus der bedeutendsten jüdischen Erfinder- und Industriellenfamilie Hannovers. 1881 errichtet er mit seinem Bruder Emil eine Telefonfabrik in der Kniestraße (Nordstadt). 1898 gründet er, wieder mit seinem Bruder, die Deutsche Grammophon Gesellschaft für die Massenproduktion von Schallplatten. Emil Berliner gilt als Erfinder der Schallplatte und des Plattenspielers. Im Jahre 1900 gründet Josef gemeinsam mit seinen Brüdern Emil und Jacob die Hackethal-Draht-Gesellschaft zur Produktion verbesserter Leitungsdrähte und Kabel.

Deportiert und ermordet

Josefs Tochter Klara (geboren 1897) nimmt nach dem Tode ihres Vaters zahlreiche jüdische Familien auf, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden sind. Mitte des Jahres 1941 leben über 40 Personen in der „Villa Simon”. Dann wird sie gezwungen, Haus und Grundstück unter Wert an die Stadt Hannover zu verkaufen. Alle jüdischen Bewohner müssen ausziehen. Klara Berliner wird im März 1943 von Hannover in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Cora Berliner, 1890 in Hannover als Tochter von Hanna und Manfred Berliner geboren, ist eine bedeutende Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin der modernen Frauenbewegung. 1933 wird die Berliner Professorin für Wirtschaftswissenschaften als Jüdin aus dem Staatsdienst entlassen. 1942 wird sie von Berlin in das Ghetto Minsk deportiert, dort verlieren sich ihre Spuren. Mit der Shoah wird die Existenz der Familie Berliner in Hannover nach sechs Generationen ausgelöscht

Mit einem Kindertransport gerettet

Vor der Villa liegen Stolpersteine für das jüdische Ehepaar Landgerichtsrat a.D. Dr. Martin Schlesinger und Betty Schlesinger, geb. Braun. Martin Schlesinger, der aus rassischen Gründen seine Anstellung als Jurist verliert, zieht im Juli 1938 mit seiner Familie aus dem schlesischen Oppeln nach Hannover, wo er eine Stelle im Palästina-Amt erhält, einer zionistischen Organisation. Der achtjährige Michael besucht die nahe gelegene jüdische Schule im Gemeindezentrum Lützowstraße, seine jüngere Schwester Hannah den Kindergarten. Anfang Oktober 1938 bezieht die Familie eine Wohnung im ersten Stock der „Villa Simon“ mit großem Balkon. Die Ereignisse der Pogromnacht bestärken bei den Eltern die Gedanken an Emigration. Aber die guten Kontakte des glühenden Zionisten nach Palästina nützen nichts – deutsche Juristen sind dort nicht gefragt. Pläne einer Flucht nach England oder in die USA verzögern sich. Durch Vermittlung von Betty Schlesingers Bruder in Oxford werden Michael und Hannah im August 1939 mit einem Kindertransport vorweggeschickt – so die Idee. Sie werden ihre Eltern nie wiedersehen. Der Kriegsbeginn verhindert deren Emigration. Nach Zwangseinweisung in das „Judenhaus“ Körnerstraße werden sie mit dem ersten großen Transport am 15. Dezember 1941 nach Riga deportiert und im Holocaust ermordet.

Michael Brown – er hat seinen Namen nach dem Mädchennamen seiner Mutter anglisiert – kommt erstmals im Jahre 1995 zu Besuch nach Hannover zurück, seit 2009 dann regelmäßig als Zeitzeuge vor Gruppen und in öffentlichen Veranstaltungen. 2017 erscheint seine Autobiographie in der Schriftenreihe der Gedenkstätte Ahlem.

Text Königsworther_Platz (PDF)

Weitere Informationen online

Wikipedia-Beitrag Josef Berliner
Wkipedia-Beitrag Emil Berliner
Wikipedia-Beitrag Königsworther Platz
Wikipedia-Beitrag Villa Simon
Wikipedia-Beitrag Friedrich Jeckeln
FemBio Cora Berliner

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel