Schreibtischtäter im Oberfinanzpräsidium Hannover

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurden wenige Täter aus den Spitzen der Partei, Gestapo, SS, Wirtschaft und Justiz bestraft. Aber die Verdrängung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung hatte viele Helfer in Ämtern und Verwaltungen: Schreibtischtäter. Terror und Bürokratie gingen Hand in Hand.

Hannover: Altbau des Finanzamtes in der Hardenbergstraße, 2014. Foto Michael Pechel
Hannover: Altbau des Finanzamtes in der Hardenbergstraße, 2014. Foto Michael Pechel

Vertreibung als Ziel

Ein innenpolitisches Hauptziel der Nationalsozialisten ist (zunächst) die Vertreibung der Juden aus Deutschland. Neben offenem Terror bewirkt eine Flut von diskriminierenden Gesetzen und Verordnungen, dass die Hälfte der rund 550.000 (1933) deutschen Jüdinnen und  Juden in das Ausland emigriert. Fluchtwellen folgen den Spitzen der antijüdischen Maßnahmen, wie der Pogromnacht des November 1938.

Nach Kriegsbeginn ist das Überschreiten der deutschen Grenzen fast unmöglich. Im Oktober 1941 wird die Emigration verboten. Der Vernichtung der sozialen und wirtschaftlichen Existenz folgt nun der physische Tod in den Ghettos und Vernichtungslagern im besetzten Osteuropa.

Devisenbewirtschaftung

In den Jahren der Weltwirtschaftskrise erlässt die Weimarer Republik strenge Bestimmungen, um Kapitalflucht zu verhindern und die Außenhandelsbilanz im Gleichgewicht zu halten. Von Emigranten werden hohe Vermögensabgaben erhoben („Reichsfluchtsteuer“). Die Finanzverwaltung des NS-Staates übernimmt diese Einschränkungen und verschärft sie zu einem Hauptinstrument der Beraubung von jüdischen Bürgern.

Das Auswärtige Amt macht im Januar 1939 mit einem Schreiben an die Auslandskonsulate seine Absicht deutlich, „die Juden als Bettler über die Grenzen zu jagen“. Verarmte Juden sollen ihren Aufnahmeländern zur Last fallen. Ziel ist, den deutschen Antisemitismus zu exportieren. Dies steht im praktischen Gegensatz zum offiziellen Ziel einer Förderung der Auswanderung: “Ausreisewilligen“ Jüdinnen und  Juden wird es zunehmend unmöglich, ihre Flucht zu finanzieren oder ein aufnahmebereites Land zu finden.

Legalisierter staatlicher Raub

Devisenstellen bei den Finanzämtern sorgen in Zusammenarbeit mit Zollbehörden dafür, dass flüchtende Juden einen möglichst großen Teil ihres Eigentums zurücklassen. Seit dem Dezember 1935 besteht nach einer Änderung des Devisengesetzes die Möglichkeit, das Vermögen einer „ausreiseverdächtigen“ Person zu sperren – der Zugriff des Eigentümers ist nur noch nach Genehmigung einer Devisenstelle möglich. Die zulässige Geldsumme, die ins Ausland mitgenommen werden darf, sinkt beständig. In Deutschland verbliebene Guthaben („Auswandererguthaben“) können nur nach immensen Abschlägen in das Emigrationsland transferiert werden: von 20 Prozent Verlust im Jahre 1934 bis zu 96 Prozent Verlust im Jahre 1939. Auf diese Weise sanieren Flüchtlinge zwangsweise die durch Kriegsrüstung zerrütteten deutschen Staatsfinanzen.

Rettung des nackten Lebens

Ähnlich restriktiv und räuberisch fallen die Genehmigungen für die Mitnahme von Gegenständen aus. Seit dem Jahre 1938 wird als „Umzugsgut“ nur noch der „unbedingt notwendige Hausrat“ gestattet. Auf „neuwertige“, d.h. nach dem Jahr 1933 gekaufte Gegenstände ist eine Gebühr in Höhe des ursprünglichen Kaufpreises zu entrichten.

Hohe Abgaben oder gleich Mitnahmeverbote betreffen auch alles, was eventuell nach der Flucht verkaufsfähig ist: Fotoapparate, Musikinstrumente, Kunstgegenstände oder Schmuck. Die Mitnahme von Edelmetallen wird prinzipiell untersagt. Die überlieferten Unterlagen der Finanzverwaltung dokumentieren eine bis ins Detail durchgeführte Enteignung, die sogar den Umfang der genehmigten Unterwäsche begrenzt.

„Verwertung von Judengut“

Die in Hannover zurückgebliebene jüdische Bevölkerung muss im Herbst 1941 „Judenhäuser“ beziehen. Der Ablauf geht arbeitsteilig vonstatten: Die Stadtverwaltung organisiert die Vertreibung. Die Gestapo sorgt für den Transport des in den Wohnungen zurückgelassenen Eigentums in städtische Sammellager. Finanzbeamte machen das „Judengut“ zu Geld. Mancher „Volksgenosse“ kann sich bei öffentlichen Versteigerungen daran bedienen.

Kurz nach Beginn der systematischen Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager wird am 25. November 1941 eine zynische Gesetzesbestimmung erlassen: Wer als Deutscher „seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland nimmt“, verliert automatisch die Staatsbürgerschaft. Sein Vermögen verfällt dem Staat. Vor der „Abschiebung“ hatten die Betroffenen der Gestapo minuziöse Eigentumslisten übergeben müssen. Die anschließende Verwertung zugunsten der Staatskasse obliegt ebenfalls der Finanzverwaltung: In enger Zusammenarbeit mit der Gestapo sind die Verwertungsstellen der Oberfinanzpräsidien ab Ende 1941 für die Verwaltung und Verwertung des Besitzes der deportierten Juden zuständig.

Bei der ebenfalls rassistisch motivierten Verfolgung und Beraubung der Sinti spielte die Finanzbürokratie die gleiche Rolle.

Devisenstelle

Das repräsentative Gebäude in der Hardenbergstraße 3-4 wurde im Jahre 1905 für die preußische Oberzolldirektion Hannover errichtet. Seit 1919 dient es als Sitz des Landesfinanzamts Hannover (ab 1937: Oberfinanzpräsidium Hannover). Hier ist bis zum Jahre 1937 und von 1943 bis 1945 auch die Devisenstelle untergebracht. Zwischen 1937 und 1943 arbeitet die Devisenstelle im Gebäude Waterlooplatz 11 neben dem Finanzamt Hannover-Waterlooplatz, beide in ehemaligen welfischen Kasernen. An der gleichen Adresse kommt auch die Ende 1941 zeitgleich mit der ersten Deportationswelle gegründete „Vermögensverwertungsstelle“ unter.

Für Steuerakten galt noch bis 2002 eine generelle Sperrfrist von 80 Jahren. Erst nach Änderung des Archivrechts konnten die Aktenbestände der Oberfinanzdirektion aus der Zeit vor 1945 dem Hauptstaatsarchiv übergeben werden. Damit standen sie der Geschichtswissenschaft zur Verfügung – und ergaben eine tiefe Verstrickung der Steuerverwaltung in die NS-Politik.

Text Oberfinanzpräsidium_Hannover (PDF)

Weitere Informationen online

Claus Füllberg-Stolberg Die Rolle der Oberfinanzbehörden bei der Vertreibung der Juden: Familie Seligmann aus Ronnenberg bei Hannover
Hans-Dieter Schmid “…wie Judensachen zu behandeln”. Die Behandlung der Sinti und Roma durch die Finanzverwaltung
Wikipedia-Beitrag Devisenstelle

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel