Laveshaus: Ort für nationalsozialistische „Erb- und Rassenpflege“

Das Gebäude wird 1823-24 vom berühmten Hofarchitekten und Stadtplaner Georg Ludwig Friedrich Laves errichtet, er bewohnt es bis zu seinem Tod. 1855 kommt der separate Nebenbau als Atelier- und Wohnhaus für seinen Sohn hinzu. Die Gebäude werden seit dem Jahre 1908 von der Stadtverwaltung genutzt. Beide Häuser überstehen den Bombenkrieg unversehrt. Nach 1945 ziehen unterschiedliche städtische Ämter ein, 1996 werden sie von der Architektenkammer Niedersachsen erworben.

Hannover: Die neunköpfige Familie Fischer beim Fotografen, um 1935. Die vier älteren Kinder sind zwischen 1921 und 1928 geboren. Rechts außen der Vater Albert gen. Dänemann Fischer sitzend, ebenso die Mutter Henny gen. Trauba (2.v.l.). Privatbesitz
Hannover: Die neunköpfige Familie Fischer beim Fotografen, um 1935. Die vier älteren Kinder sind zwischen 1921 und 1928 geboren. Rechts außen der Vater Albert gen. Dänemann Fischer sitzend, ebenso die Mutter Henny gen. Trauba (2.v.l.). Privatbesitz

Gesundheitspolitik als Auslese

Das Gesundheitswesen spielt im nationalsozialistischen Staat eine neue und starke Rolle. Im sozialdarwinistischen Denken der neuen Machthaber setzt sich im ewigen „Ringen der Völker“ nur die gesunde, leistungsfähigste „Rasse“ durch. Diese gilt es durch positive wie negative Auslese zu stärken. Dieses Denken in Kategorien der Sozialhygiene („Eugenik“) ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts international diskutiert. Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933 treten Bestimmungen in Kraft, die auf einen Gesetzentwurf der späten Weimarer Republik zurückgehen. Mit dem entscheidenden Unterschied: Die Unfruchtbarmachung („Sterilisierung“) kann nun erzwungen werden. Bis zum Ende der NS-Herrschaft wird diese Maßnahme etwa 400.000 Männer und Frauen in Deutschland, Österreich und den besetzten Gebieten treffen.

Wächter der Erbqualität

Nach einer gesetzlichen Straffung des Gesundheitswesens 1935 wird auch in Hannover ein Gesundheitsamt neu gegründet. Es bezieht den Lavesbau am Friedrichswall und ein nahe gelegenes Gebäude in der Leinstraße. In der Abteilung III: „Erb- und Rassenpflege“ begutachten Ärzte die erbbiologische Qualität von Heiratswilligen. Hier werden aber auch die Informationen über Sterilisationen bzw. Abtreibungen wegen angeblicher Erbkrankheiten zusammengetragen: „angeborener Schwachsinn“, Trunksucht, Leiden wie Epilepsie, Blindheit, körperliche Missbildungen und mehr („negative Auslese, Ausmerze“). Um den rechtlichen Schein zu wahren, werden Anträge auf Sterilisierung dem neu gegründeten „Erbgesundheitsgericht“ beim Amtsgericht Hannover zur Entscheidung zugestellt.

Nicht zuletzt wacht die Abteilung darüber, dass die “Erbqualität” des deutschen Volkskörpers nicht durch Vermischung mit „Fremdrassen“ gemindert wird – wozu seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 Juden, Sinti und „Dunkelhäutige“ gehören. Heiraten und außerehelicher Geschlechtsverkehr mit „Deutschblütigen“ sind strikt untersagt.

„Erbbiologische Bestandsaufnahme“

Dem Gesundheitsamt werden Informationen durch ein ganzes Netz von Institutionen und beruflich zuständigen Personen zugeliefert. Bei einem bloßen Verdacht auf Erbkrankheit besteht die gesetzliche Anzeigepflicht für Ärzte, Zahnärzte, selbständige Schwestern und beim Gesundheitsamt angestellte „Volkspflegerinnen“, Masseure. Heilpraktiker, Hebammen, Leiter von Pflege-, Straf- und Fürsorgeerziehungsanstalten. All dies wird in umfangreichen Karteien festgehalten, die Abweichungen von der Norm innerhalb von Familien über mehrere Generationen hinweg dokumentieren („Sippentafel“, Erbkartei). Eingetragen werden Merkmale wie: Schulleistungen, Sonderbegabungen, Charaktereigenschaften, Alkoholmissbrauch, ansteckende oder Erbkrankheiten, Heim- und Krankenhausaufenthalte, Körperbautyp („arisch“ oder „nichtarisch“) und mehr. Da hier auch „abweichende Rassen“ vermerkt sind, arbeiten sie der Kriminalpolizei und Gestapo bei der Erfassung und späteren Deportation von Juden und Sinti zu. Die Gesundheitsämter erhalten direkte Anweisung „Zigeuner, Zigeunermischlinge und nach Zigeunerart umherziehende Personen“ der zuständigen Stelle der Kriminalpolizei zu melden.

Versagen bei der „Intelligenzprüfung“

Rund zwei Drittel der über 2.100 Anträge auf Sterilisierung, die das städtische Gesundheitsamt in den Jahren 1935-1945 stellt, begründet es mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“. Betroffen davon sind häufig Sinti. Oft von Ort zu Ort wechselnder Schulbesuch der Kinder, die Sozialisation in der Primärsprache Romanes – einer alten Sprache, die ohne Schriftform auskommt – und eine kulturelle Kluft zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft führen zur Beurteilung der Sinti-Kinder als intellektuelle Versager. Zum Beweis dafür werden sie amtlichen Tests unterzogen, die das gängige Schulwissen mit Fragen zu „sittlichen Allgemeinvorstellungen“ kombinieren – die ihnen ja gerade abgesprochen werden. Die Gutachten offenbaren meist die üblichen antiziganistischen Stereotype: …“ verschlagen, verlogen und heimtückisch, abgerissen und verdreckt.“

Sterilisierung wegen Kinderreichtum

Im NS-Staat wird der Schwangerschaftsabbruch durch Abtreibung als „Verbrechen an der Lebenskraft des deutschen Volkes“ streng verfolgt. Ausgenommen davon sind Frauen, die wegen angeblicher Erbkrankheiten zwangssterilisiert werden. Ein Beispiel: Die 33-jährige Sintizza Gertrud W. hat 13 Kinder zur Welt gebracht, als sie zur erbbiologischen Untersuchung in das Gesundheitsamt vorgeladen wird. Dies führt aber nicht zum „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ in Gold (für acht oder mehr Kinder), dessen Verleihung setzt „Deutschblütigkeit“, „Erbgesundheit“, „Anständigkeit“ und „sittlich einwandfreien Lebenswandel“ voraus. Ein ärztlicher Gutachter stuft ihre mangelhafte Bildung als krankhaften „intellektuellen Schwachsinn“ ein. In der Hebammenlehranstalt Hannover wird die Abtreibung vorgenommen, anschließend wird die Frau im städtischen Nordstadtkrankenhaus sterilisiert. Als ihr das Kind per Kaiserschnitt herausgeschnitten wird, ist sie im sechsten oder siebten Schwangerschaftsmonat. Die Meldebehörde vermerkt die Geburt und den Tod ihres Kindes am gleichen Tag.

Nach dem „Auschwitzerlass“ des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom Dezember 1942 werden die von der Deportation ausgenommenen Sinti und Roma zwangssterilisiert. Die Kontrolle darüber übernehmen aber nicht mehr die Gesundheitsämter, sondern gleich die Kriminalpolizeistellen.

Keine „Stunde Null“

In der Gesundheitspolitik wie im gesamten staatlich-polizeilichen Verhalten gegenüber den Sinti gibt es keine „Stunde Null“. Auch nicht in Hannover. Im Bombenkrieg werden zwar viele Akten des Gesundheitsamtes vernichtet – die zentrale „Erbkartei“ mit rund 200.000 Personenkarten (1942) überlebt dank ihrer Auslagerung. „Zigeuner,
Zigeunermischlinge und nach Zigeunerart Umherziehende“ sind auf den Karten besonders markiert. Diese Informationen werden nachweislich noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein mit großer Selbstverständlichkeit benutzt.

Weitere Informationen

Wikipedia-Beitrag Nationalsozialistische Rassenhygiene
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma „Rassendiagnose Zigeuner“
geschichte.bewusst.sein Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus – Materialien aus Niedersachsen
Geschichtswerkstatt Exter Gesundheitspoitiki im Nationalsozialismus (PDF)

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel