Niedersächsisches Landesmuseum Hannover: Kunstraub und Raubkunst

Hannover war in den 1920er Jahren eine moderne Industriestadt – und im allgemeinen Kunstgeschmack gleichzeitig „stocksteife Provinz“ (Sophie Lissitzky-Küppers). Gleichwohl bestanden mit der Kestner-Gesellschaft, der Landesgalerie unter Alexander Dorner und der Künstlergruppe „die abstrakten hannover“ mit Kurt Schwitters einige Inseln der Avantgarde. Dieser Aufbruch wurde nach 1933 erstickt.

Hannover: Provinzialmuseum, heute Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Ansichtskarte um 1900, Privatbesitz
Hannover: Provinzialmuseum, heute Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Ansichtskarte um 1900, Privatbesitz

Kunst-Aufbruch

Mitten im Ersten Weltkrieg gründet sich 1916 mit der Kestner-Gesellschaft ein privater Kunstverein, der sich den aktuellen Kunstströmungen widmet. Neben dem Expressionismus liegt bald ein Schwerpunkt auf der Abstraktion. 1923 werden in drei Ausstellungen Werke von El Lissitzky, Wassily Kandinsky und László Moholy-Nagy gezeigt. 1924 stellt Kurt Schwitters aus. Die Königstraße 8 wird zum Schauplatz der deutschen, russischen und internationalen Avantgarde.

Der russisch-jüdische Architekt und Künstler El Lissitzky wohnt und arbeitet für längere Zeit im Gebäude der Kestner-Gesellschaft. Er trägt dort öffentlich über die Kunst des „Neuen Russland“ vor, liefert zwei Kestner-Mappen, gestaltet zusammen mit Kurt Schwitters dessen MERZ-Heft 8/9, ist mit Gebrauchsgrafik unter anderem für die Firma Pelikan tätig. Eng verbunden mit der Gesellschaft ist der Kunsthistoriker Dr. Alexander Dorner, Kustos und seit 1925 Direktor der Kunstabteilung im heutigen Niedersächsischen Landesmuseum Hannover.

„Kabinett der Abstrakten“

Unter Alexander Dorner öffnet sich die Kunstabteilung im damaligen Provinzialmuseum der zeitgenössischen Moderne. Erstmals werden abstrakte kubistische und konstruktivistische Werke angekauft: Bilder und Plastiken von Alexander Archipenko, Fernand Léger, László Moholy-Nagy, Piet Mondrian, Picasso, Kurt Schwitters und Lissitzky selber. Aber sie werden nicht herkömmlich gehängt oder aufgestellt. El Lissitzky bettet sie in ein dynamisches Gesamtkunstwerk ein, entwirft eine Präsentation mit teilweise beweglichen Wandkonstruktionen aus Holz, Stahlelementen, drehbaren Glasvitrinen und Stoffbespannung. Hannover erhält damit einen Kunst-Raum, der in den Museen der Welt kein Gegenstück hatte.

Kunstraub

In München hetzen 1937 die Nationalsozialisten mit einer Ausstellung gegen – in ihren Augen – „Entartete Kunst“. Ihr folgt deutschlandweit die Säuberung öffentlicher Museen und Galerien. Eine Kommission bereist rund 100 Museen und beschlagnahmt über 20.000 Werke von mehr als 1400 Künstlern. Die Aktion trifft so unterschiedliche Kunstrichtungen wie den Expressionismus, ungegenständliche Kunst und die Neue Sachlichkeit – kurz: die Moderne. Hannover verliert insgesamt 278 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und Aquarelle von Barlach, Corinth, Feininger, Kollwitz, Modersohn-Becker, Nolde, Schwitters und anderen. Gleichzeitig wird das „Kabinett der Abstrakten“ aus dem Landesmuseum gerissen. Alexander Dorner hat 1936 seinen Dienst quittiert, 1937 emigriert er in die Vereinigten Staaten.

Die ausgesonderten Werke sollen über vier Kunsthändler gegen Devisen in das Ausland verkauft werden. Entgegen dieser Weisung werden sie aber teils an deutsche Händler und Sammler veräußert oder selbst behalten (wie im Fall des Hamburger Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt). Was keine Interessenten findet, verbrennt als „unverwertbarer Rest“ am 20. März 1939 auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache.

Raubkunst

In Deutschland bestehen bedeutende private Kunstsammlungen und Galerien jüdischer Besitzer. Viele von ihnen sind nach dem Jahre 1933 gezwungen, zur Sicherung des Lebensunterhalts oder zur Finanzierung der Auswanderung ihre Sammlungen aufzulösen. Bei diesen Notverkäufen kann meist nur ein Bruchteil ihres Werts realisiert werden.

Direktor der Kunstgalerie des heutigen Niedersächsischen Landesmuseums ist von 1938 bis 1962, unterbrochen durch eine kurze Phase der „Entnazifizierung”, der Kunsthistoriker Dr. Ferdinand Stuttmann. Das Mitglied der NSDAP begutachtet als Sachverständiger der nationalsozialistischen „Reichskammer der bildenden Künste“ beschlagnahmte Sammlungen. Nach dem Krieg kauft die Stadt Hannover auf Anraten Stuttmanns für die Landesgalerie mehr als 100 hochkarätige Kunstwerke der Moderne aus dem Besitz des Berliner Kunsthändlers (und frühen NSDAP-Mitglieds) Dr. Conrad Doebbecke. Ihre Herkunft ist heute äußerst umstritten. Doebbecke selber warnt Stuttmann: Man solle die Gemälde für eine Zeitlang lieber „in den Kisten lassen“.

Provenienzforschung

Die Landeshauptstadt Hannover hat 2008 eine Stelle für die Provenienzforschung zum städtischen Kunstbesitz eingerichtet. Das Gemälde von Lovis Corinth “Römische Campagna” von 1914 wird im Jahre 2007 an die Erben des ehemaligen Besitzers zurückgegeben – eines jüdischen Arztes und Kunsthistorikers, der nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst im Mai 1933 seinen Kunstbesitz verkauft hatte und emigriert war. In Fällen anderer Kunstwerke aus dem Ankauf von Doebbeke verzögert sich die Entscheidung. Unterlagen über ihre Besitzwechsel fehlen.

Am Landesmuseum Hannover selbst besteht ebenfalls seit 2008 eine Stelle für Provenienzforschung, die für die landeseigenen Bestände zuständig und seit 2015 zugleich Koordinationsstelle für das Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen ist.

Rekonstruktion

Auf Initiative von Lydia Dorner, der Witwe Alexander Dorners, wird 1968 das Kabinett der Abstrakten im Niedersächsischen Landesmuseum rekonstruiert. Diese Rekonstruktion kommt leicht verändert 1979 in das neu eröffnete Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel und existiert dort bis 2016.

Die aktuelle Rekonstruktion im Sprengel-Museum von 2017 versucht, sich mit Hilfe zeitgenössischer Fotografien dem ursprünglichen Kabinett erneut anzunähern. Die Wahl der Materialien, wie Holz, Eisenbänder, Linoleum und Farbe, folgt den Standards des 1920er geltenden Handwerks. Eine illustrierte Besucherinformation zur neuen Dauerinstallation liegt im Museum aus.

Text Niedersächsisches_Landesmuseum (PDF)

Weitere Informationen online

Homepage Niedersächsisches Landesmuseum
hannover.de Erwerbungen aus der Sammlung Dr. Doebbeke
Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen
bpb Michael Franz, Museen, Beutekunst und NS-Raubkunst
Lost Art Internet Datenbank
Wikipedia-Beitrag Kabinett des Abstrakten
Wikipedia-Beitrag Sophie Lissitzky-Küppers
Hannoversche Allgemeine Zeitung Im neuen Kabinett der Abstrakten wird man Akteur
Sprengel Museum Hannover Internetseite

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel