Jüdisches Gemeindezentrum Ohestraße

Am Rande der Calenberger Neustadt entstand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Gemeindezentrum mit Lehrerausbildung, Internat, Kinderhort und Religionsschule. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Gebäude die wichtigste Anlaufstelle für jüdische Displaced Persons.

Hannover: Jüdische Frauen, Männer und Kinder begehen das Fest Tu B'Shvat (Neujahrsfest der Bäume) im DP-Camp Ohestraße, 26. Februar 1948. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Sammlung David Bornstein
Hannover: Jüdische Frauen, Männer und Kinder begehen das Fest Tu B'Shvat (Neujahrsfest der Bäume) im DP-Camp Ohestraße, 26. Februar 1948. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Sammlung David Bornstein

Der Beginn

Am Anfang steht Moritz Simon (1837-1905) und sein Ansatz, durch Erziehung jüdischer Kinder eine langfristige Hinwendung zu Handwerk und Landwirtschaft zu erzielen. Der jüdische Bankier aus Hannover gründet im Jahre 1884 den „Verein zur Förderung des Gartenbau- und Handfertigungsunterrichts in Jüdischen Volksschulen“ und stattet ihn mit einem Grundstück an der Ohestraße aus. Dort entsteht 1892 eine jüdische Lehrerbildungsanstalt mit angrenzender Fläche für den gärtnerischen Unterricht. Unterweisungen in Papp- und Holzarbeiten finden im Souterrain des Gebäudes statt. Aber Simon scheint mit der Verbindung von Lehrerausbildung und Handfertigkeitsunterricht nicht zufrieden gewesen zu sein – noch im gleichen Jahr kauft er ein sehr viel größeres Grundstück am Randes des Dorfes Ahlem bei Hannover und gründet dort die Israelitische Gartenbauschule Ahlem.

Die Lehrerbildungsanstalt besteht hier bis zu ihrer Schließung im Jahre 1921. Sie umfasst im Gebäude Ohestraße 8 das eigentliche Lehrerseminar mit fünfjähriger Ausbildung, ein Internat zur Unterbringung der Seminaristen im Nebenhaus Ohestraße 10 sowie eine Übungsschule – vor 1935 die einzige öffentliche jüdische Volksschule Hannovers.

Weitere Aufgaben

Auf dem von der Straße zurückliegenden Teil des Gartengrundstücks Ohestraße 9 baut im Jahre 1913 die „Alexander und Fanny Simon‘sche Stiftung“ einen Kindergarten und -hort. Sein Entwurf stammt vom bedeutenden Architekten Heinrich Tessenow (1876-1950), der schon zuvor für die Stiftung tätig gewesen ist (Lehrlingsheim für das Lehrgut für junge jüdische Landwirte in Steinhorst bei Celle sowie Lehrerbildungsanstalt Peine). Ganz im Sinne Moritz Simons, der die wohltätige Stiftung dem Andenken seiner Eltern gewidmet hat, umfasst der Kindergarten auch Gärten und Werkstätten.

Das Lehrerbildungsseminar stellt mit Ende des Schuljahres 1921 seine Arbeit ein. Gründe sind im Ersten Weltkrieg und der anschließenden Geldentwertung zu suchen: Zum einen ging die Zahl der auszubildenden Lehrer stark zurück, zum anderen leidet der Trägerverein der Schule unter rapidem Vermögensschwund. Rechtsnachfolger seiner Vermögenswerte wird die jüdische Gemeinde Hannovers. Diese hatte das Gebäude Ohestraße 8 bereits länger für ihre (neben der Religionsschule Lützowstraße) zweite Religionsschule mitgenutzt. Nun kommen weitere Einrichtungen wie Büros und die Notstandsküche der Synagogengemeinde hinzu. Später zieht die gesamte „Zentralstelle für Wohlfahrtspflege in der Synagogengemeinde Hannovers“ in das Haus. Sie bündelt seit 1909 die Arbeit von mehr als 20 wohltätigen jüdischen Vereinen und Stiftungen.

Während der Diktatur

Die Pläne zur Neugestaltung der „Führerstadt“ Hannover erstrecken sich auch auf den Waterlooplatz und seine Umgebung. Hier soll als eines von drei Foren das „Forum der Regierungsgebäude“ entstehen (s. Maschsee). Die Gebäude der Ohestraße stehen dem buchstäblich im Wege. Die Stadt meldet am 7. November 1938 (zwei Tage vor der Pogromnacht!) bei der jüdischen Gemeinde ihr Interesse an den Grundstücken Ohestraße 8 und 9 an. Die Verhandlungen ziehen sich hin. Schließlich wird der 1. Juli 1942 als Übergabetermin vereinbart. Aber vorher geschieht zweierlei: Als immer mehr Juden nach Aufhebung ihres Mieterschutzes in das Gemeindehaus Lützowstraße ziehen müssen, wird im April 1940 die jüdische Volksschule von dort in das größere Gemeindezentrum Ohestraße verlegt und hier der Unterricht bis Anfang September 1941 weitergeführt – bis die Gebäude, wie insgesamt 15 Häuser in privatem oder öffentlichem jüdischem Besitz in Hannover, von der Stadtverwaltung zu „Judenhäusern“ vor der Deportation ausgewählt werden. Vom 3. September 1941 bis zum ersten Transport nach Riga am 15. Dezember 1941 wohnen hier zwangsweise etwa 200 der insgesamt 1600 noch in Hannover lebenden Juden. Nach dieser Deportation sinkt die Belegung schlagartig auf etwa 25 Personen, bis sie aus anderen, zu schließenden, „Judenhäusern“ ergänzt wird.

Am 1. Juli 1942 – dem Tag der vereinbarten Übergabe und nach den umfassenden Transporten hannoverscher Juden nach Riga und in das Warschauer Ghetto – stehen die beiden Gebäude leer. Kriegsbedingt werden sie einer passenden Nutzung zugeführt: In den ehemaligen Kinderhort zieht ein Kommando französischer Kriegsgefangener, das Vorderhaus Ohestraße 8 nimmt das dazu gehörende Wachkommando, das städtische Kriegssachschädenamt sowie von der Stadt eingewiesene Mieter auf. Fritz Treu, Jude in „Mischehe“ und vor 1933 Mitglied der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP), berichtet in seinen Memoiren, wie er als Zwangsverpflichteter einer Baufirma jeden Tag französische Kriegsgefangene von der Ohestraße zur Baustelle eines Bunkers begleiten muss – sein Wiedersehen mit der ehemaligen jüdischen Religionsschule, in der er als Kind wohl recht widerwillig Hebräisch lernte.

Displaced Persons

Amerikanische Truppen befreien am 10. April 1945 in Hannover über 40.000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Überlebende der Konzentrationslager. Alle Nichtdeutschen erhalten den Status von Displaced Persons (DPs) unter dem Schutz der Alliierten. Viele von ihnen sind jüdischer Herkunft. Während die Angehörigen westeuropäischer Länder sehr schnell in ihre Heimat repatriiert werden, führen die osteuropäischen jüdischen Überlebenden des Holocaust auf Jahre ein „Leben im Wartesaal“ im Lande der Verfolger. Dies ändert sich erst mit der Lockerung der Einwanderungsbestimmungen v.a. in die USA und der Gründung des Staates Israel.

Die jüdische DP-Gemeinde in Hannover ist mit zeitweilig über 1200 Mitgliedern die, nach Bergen-Belsen, größte der britischen Zone. Sie organisiert sich als „Jüdisches Komitee“ getrennt von der neu entstehenden deutschen jüdischen Gemeinde als Interessenvertretung der „Sheerit Haplejta“ („Rest der Überlebenden“). Ihre Zentren sind ein ehemaliges Verwaltungsgebäude in Vinnhorst, der Kibbuz auf dem Gelände der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem sowie das ehemalige Gemeindezentrum Ohestraße. Verkehrssprachen sind allgemein Jiddisch und Polnisch. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner sind Überlebende der KZ Ahlem oder Bergen-Belsen. Wegen ihrer Innenstadtlage und als Ausgabestation von Hilfslieferungen gewinnt die Ohestraße eine zentrale Bedeutung.

Zentrum (ost)jüdischen Lebens

Das Jüdische Komitee Hannover wird im Sommer 1945 in den Häusern der Ohestraße 8/9 gegründet. Das genaue Datum ist unbekannt, vermutlich leben schon länger jüdische Überlebende illegal in den Gebäuden – von den englischen Behörden werden sie erst im November 1945 als „Assembly Center“ beschlagnahmt. Hier werden die Verwaltungsräume des Komitees eingerichtet, neu Ankommende registriert, Suchlisten nach Angehörigen ausgehängt, die Zuteilungen der jüdischen Hilfsorganisationen ausgegeben. Offiziell untersteht der Komplex wie alle DP-Camps bis Ende 1946 der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen UNRRA, danach der Internationalen Flüchtlingsorganisation der UN. Das Team der UNRRA zählt 1946 zwischen 140 und 195 ständige Bewohnerinnen und Bewohner, Zeitzeugen berichten von insgesamt über 20 Schlafräumen in beiden Häusern, die sich jeweils sieben bis acht Menschen teilen müssen. Hinzu kommen Sanitärbereiche, Klub- und Versammlungsräume, ein Sportraum, die Krankenabteilung, eine Synagoge, Schul- und Ausbildungsräume, eine Schneiderwerkstatt und mehr. Im Außenbereich entstehen im Sommer 1946 in Wellblechbaracken reguläre Ausbildungswerkstätten: Eine Aufstellung der jüdischen Hilfsorganisation ORT (Organisation – Reconstruction – Training) zählt im Mai 1947 in der Ohestraße 24 Schüler für KFZ-Mechanik, 12 für Elektrotechnik, 16 für Schweißen.

Aber die Ohestraße ist auch Mittelpunkt für die zahlreichen nichtdeutschen Jüdinnen und Juden, die sich auf der Suche nach Privatheit als „free-living Jews“ selbständig eine Wohnung in der Stadt gesucht haben – immer in Sorge, dadurch ihren Status als DPs zu verlieren. Ende 1945 sind dies immerhin rund 900 Menschen. In jüdischen Zentren wie der Ohestraße suchen sie sozialen Zusammenhalt und einen gemeinsamen kulturellen Rahmen. Ein Orchester wird gewünscht, eine Bibliothek eingerichtet, in den Räumen des jüdischen Restaurants in der Ohestraße finden Aufführungen des KZ-Theater Bergen-Belsen statt. – Aber auch in politischen Konflikten ist die Ohestraße buchstäblich Anlaufstelle: Nach einer öffentlichen Rede des britischen Außenministers über das, in seinen Worten, „Jewish Problem“ in Palästina kommt es auch in Hannover zu Protesten. Im Hof der Ohestraße versammeln sich am 16. November 1945 Hunderte Menschen mit blauweißen Armbinden unter Transparenten mit Forderungen wie: „We Want the Gates of Palestine Opened“. Britische Militärpolizei löst die Kundgebung gewaltsam auf, Anführer werden verhaftet, es folgt ein Prozess gegen fünf Männer und drei Frauen, der mit Haftstrafen endet. Sein Medienecho reicht bis in die USA.

Das Ende

Im Gegensatz zur deutsch-jüdischen Gemeinde sehen sich die Mitglieder des Jüdischen Komitee von vornherein mit wenigen Ausnahmen als eine Gemeinschaft auf Abruf: Ziel ist die Emigration in ein Aufnahmeland (möglichst) außerhalb Europa. Nach 1948 sinken die Mitgliederzahlen drastisch von 1100 auf 250 (1949).

Im Mai des Jahres 1949 werden die Gebäude Ohestraße 8/9 von der britischen Besatzungsmacht freigegeben und stehen kurz darauf dem städtischen Grundstücksamt zur Verfügung. Die Stadt will sie vorsorglich in Besitz behalten, da im Rahmen der Hillebrecht‘schen Verkehrskonzeption eine Verbreiterung der Ohestraße zur Verbindungsstraße geplant ist. Stattdessen entsteht die Gustav-Bratke-Allee. Mit dem Bau der Berufsschulzentren wird die Ohestraße in den 1950er Jahren zur Sackgasse, ihre Altbauten fallen 1970 dem Abrißbagger zum Opfer.

Seit seiner Einweihung im April 1990 erinnert ein Mahnmal am ehemaligen Standort des Lehrerbildungsseminars an jüdisches Leben in der Ohestraße. Es wird maßgeblich von Schülerinnen und Schülern des dortigen Berufsschulzentrums mitgestaltet.

Text Gemeindezentrum_Ohestraße (PDF)

Weitere Informationen online

Wikipedia-Beitrag Mahnmal zur Erinnerung an jüdisches Leben in der Ohestraße
Wikipedia-Beitrag Geschichte der Juden in Hannover
Wikipedia-Beitrag Berufsschulzentrum (Hannover)
Forum Ohe-Höfe Geschichte der Ohestraße

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel