Geburtshaus von Herschel Grünspan

Herschel Grünspan wächst hier in der Burgstraße auf, bevor er als Illegaler in Paris von der Abschiebung seiner Familie nach Polen erfährt. Seine Schüsse auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft bieten den Nationalsozialisten den lang ersehnten Anlass zur radikalen Verschärfung ihrer antijüdischen Maßnahmen.

Hannover: Ballhofplatz mit Blick auf die Burgstraße, 1939. Bildarchiv Historisches Museum Hannover
Hannover: Ballhofplatz mit Blick auf die Burgstraße, 1939. Bildarchiv Historisches Museum Hannover

Leben in der Altstadt

Herschel Feibel Grünspan (auch: Grynszpan) wird im März 1921 in der Burgstraße 36 inmitten der hannoverschen Altstadt geboren. Seine Eltern waren erst 1911 aus Russisch-Polen nach Deutschland emigriert. Nach der Gründung Polens erhalten sie 1919 die polnische Staatsangehörigkeit, bleiben jedoch in Deutschland. Der Vater ist Schneider und betreibt zeitweilig eine eigene Werkstatt wenige Häuser entfernt. Aber in der ausklingenden Weltwirtschaftskrise der Jahre 1933/34 ist die Familie auf zusätzliche städtische Wohlfahrtsunterstützung angewiesen. Ihre Lebensumstände sind hart – vier der sieben Kinder des Ehepaars sterben früh, fünf Personen teilen sich die 40qm-Wohnung im zweiten Stockwerk ohne Bad und mit einer Gemeinschaftstoilette samt Waschhaus im Hinterhof. Auch die anderen Mieter haben einen ostjüdischen Hintergrund, ebenso der Vermieter Benjamin Fischel mit einem Ladengeschäft im Erdgeschoss.

Aus Hannover nach Paris

Herschel wächst in der Burgstraße auf und besucht bis zum vierzehnten Lebensjahr die nahe Bürgerschule. Er ist schmal und sehr klein. Tief religiös, wechselt er nach Ende der Schulpflicht zu einer jüdischen Religionsschule in Frankfurt am Main. Die fünfjährige Ausbildung bricht er allerdings bald ab und geht im Juli 1936 zu einer Tante nach Brüssel und anschließend ohne Einreiseerlaubnis zu einem Onkel nach Paris. Als Illegaler lebt er von unregelmäßiger Arbeit – die französischen Behörden hatten ihn zum 15. August 1938 als unerwünschten Ausländer ausgewiesen, eine Rückkehr nach Deutschland ist ihm durch abgelaufene Papiere versperrt.

In dieser Situation erhält er durch eine Postkarte seiner Schwester Berta die verzweifelte Nachricht von der Abschiebung seiner Familie aus Hannover nach Polen. Am Morgen des siebten November kauft er sich eine gebrauchte Pistole samt Munition und verlangt in der deutschen Botschaft unter dem Vorwand, ein Dokument zu überbringen, einen Mitarbeiter zu sprechen. Überliefert sind die Worte „Sie sind ein sale boche (dreckiger Deutscher), hier ist das Dokument, im Namen von 12.000 verfolgten Juden“, mit denen er fünf Schüsse auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath abgibt. Der erliegt am Nachmittag des 9. November 1938 seinen Verletzungen.

Eine willkommene Tat

Ob das Opfer zufällig ausgewählt ist oder es sich um eine Beziehungstat handelt, wird sich nie aufklären lassen. Ernst vom Rath ist homosexuell und lebt eine ständig gefährdete Doppelexistenz zwischen Botschaft und dem homosexuellen Milieu der französischen Hauptstadt. (Sein jüngerer Bruder Günter wird im Jahre 1941 als Oberleutnant wegen „Unzucht mit Männern“ verurteilt und degradiert werden). Als die Spitze der NSDAP von dem Attentat erfährt, kann sie ihr Glück kaum fassen: Endlich bietet sich ein Anlass für die von Parteikreisen geforderte, radikale Verschärfung der antijüdischen Repression. Hitlers Leibarzt Karl Brandt eilt zum Krankenbett vom Raths in einer Pariser Klinik. Die Propaganda-Maschine des Ministers Goebbels beginnt zu rotieren. Aus der Einzeltat wird ein Anschlag des „Weltjudentums“ auf das deutsche Volk. Der 17jährige Herschel Grünspan wird dämonisiert zum Urbild des charakterlosen und hinterhältigen jüdischen Gangstertyps. Nur Stunden nach dem Tode vom Raths läuft in Deutschland der Novemberpogrom an.

Ungewisses Schicksal

Herschel Grünspan lässt sich nach den Schüssen widerstandslos von der französischen Polizei festnehmen und kommt in Untersuchungshaft. Verhöre folgen, ein Prozess wird vorbereitet. Dazu kommt es nicht mehr: Nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Frühjahr 1940 wird er durch die kollaborierende Vichy-Regierung ausgeliefert und in das zentrale Gestapo-Gefängnis Berlins überführt. Propagandaminister Goebbels plant einen großen, öffentlichkeitswirksamen Schauprozess gegen den angeblich „vom Weltjudentum gedungenen Mörder“. Angesichts der Gefahr, dass ein homosexueller Hintergrund der Tat bekannt werden könnte, verzichtet er wohlweislich darauf. Das Schicksal von Herschel Grünspan verliert sich in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Nazi-Deutschlands. Der Zeitpunkt seines Todes ist unbekannt. Herschels Eltern und sein Bruder überleben den Holocaust – nach dem deutschen Überfall auf Polen können sie in die Sowjetunion flüchten. Schwester Esther wird an einem unbekannten Ort ermordet.

Das Geburtshaus

Die Häuserreihe an der Burgstraße mit dem Geburtshaus Herschel Grünspans gehört zum Sanierungsbereich des Kreuzkirchenviertels unmittelbar am neuen Ballhofplatz. Vorgesehen ist ihr Abriss zugunsten eines Museums für die stadtgeschichtlichen Sammlungen. Stadtbaurat Elkart macht Druck. Mitte Oktober 1938 tritt die Stadtverwaltung erstmals an Benjamin Fischel als Besitzer der Burgstraße 36 heran; gerade einmal drei Wochen später, am 8. November und damit am Vortag des Novemberpogroms, wird der Kaufvertrag für Haus und Grundstück unterschrieben. Zum Verkaufsentschluss Fischels dürfte beigetragen haben, dass seine Familie zu den abgeschobenen polnischen Juden gehört hatte – nur er selber war davon ausgenommen, weil für die Transaktion notwendig. Das Ehepaar Fischel wird später im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Das Haus steht Mitte 1939 vollständig geräumt zum Abriss – als der Kriegsbeginn am 1. September die Altstadtsanierung unterbricht und das nun städtische Gebäude für die Unterbringung möglicher Kriegsobdachloser in Reserve gehalten wird. In der Bombennacht des 9./10. Oktober 1943 brennt die gesamte Häuserzeile nieder. Am Ort des früheren Geburtshauses Herschel Grünspans in der Burgstraße steht heute der Vortragssaal des Historischen Museum Hannover. Seit dem 22. März 2010 erinnert hier ein „Stolperstein“ an ihn und seine Schwester Esther. 2013 wurde dort eine neue Stadttafel angebracht, die nun auch eine englische Übersetzung bietet.

Text Geburtshaus_Herschel_Grünspan (PDF)

Der Text folgt in Teilen dem Aufsatz von Wolf-Dieter Mechler: Herschel Grynszpan und sein Geburtshaus Burgstraße 36, in: Mechler, Wolf-Dieter/ Nies, Carl Philipp (Red.): Der Novemberpogrom 1938 in Hannover. Begleitband zur Ausstellung vom 5. November 2008 bis 18. Januar 2009 im Historischen Museum Hannover. Hannover 2008

Weitere Informationen online

Wikipedia-Beitrag Herschel Grynszpan
LEMO Das Novemberpogrom 1938
Fritz Bauer Institut, Pädagogische Materialien: Dagi Knellessen, Novemberpogrome 1938 (hier als Download)

Literatur: Auswahl

Texte und Bildredaktion: Michael Pechel